Ich gehe davon aus, dass viele unserer Probleme und psychischen Krisen als Erwachsene, trotz der aktuellen Belastungen und Auslöser, einen Zusammenhang zu unserer Kindheit aufweisen.
Auch wenn diese Zusammenhänge unserem Blick verborgen sind, zeigt sich in den aktuellen Schwierigkeiten oft ein Muster, welches wir aus schmerzhaften Erlebnissen mit unseren engsten Bindungspersonen bereits kennen, meist also mit Eltern, Geschwistern oder anderen engen Bezugspersonen.
Dabei sind oft negative Glaubenssätze in unserem Inneren entstanden, die einen tiefen Einfluss auf unser späteres Leben haben und sich besonders in unseren heutigen Beziehungen negativ ausprägen können. Wir verhalten uns heute immer noch so, wie wir es ursprünglich tun mussten, um uns gegen weitere Verletzungen zu schützen. Wir ecken an und verpassen wichtige Chancen, die uns das heutige Leben schenkt.
In den letzten Jahren hat sich der Begriff „Trauma“ sehr weit verbreitet und wird manchmal sogar etwas leichtfertig benutzt. Trauma bedeutet ja, aus dem Griechischen stammend, Wunde, Verletzung.
Ein Psycho-Trauma ist keine körperliche, sondern eine seelische Verletzung, die durch ein extrem belastendes Ereignis verursacht wird. Die meisten denken dabei jedoch nur an die großen traumatischen Ereignisse wie Krieg, Flucht, Naturkatastrophen, Gewalttaten oder Unfälle. Im angelsächsischen Raum sind das die sogenannten „großen T-Traumata“.
Was aber erst allmählich bekannt wird, ist die Tatsache, dass auch kleinere Verletzungen, die sogenannten „kleinen t-Traumata“, in ihrer Summe oft ähnlich negative Wirkung haben. Und diese sind viel verbreiteter als die großen Traumata, denn sie kommen täglich vor in unserem häuslichen Umfeld. Gerade diese frühen Erlebnisse mit unseren engsten Bindungspersonen haben einen großen Einfluss auf uns, weil sie in einer Zeit passierten, wo wir noch sehr klein und verletzlich waren, uns erst langsam entwickelten und unser Körper und Gehirn noch unreif war. Die Forschung spricht daher von Entwicklungs- oder Bindungstrauma.
Dazu gehören Erfahrungen, auch wenn unsere engsten Bindungspersonen es nicht unbedingt böse meinten, wo wir in unserem So-Sein nicht akzeptiert wurden oder auf unsere wesentlichen Bedürfnisse keine passende Antwort bekamen. Oder wir durften bestimmte Gefühle nicht ausdrücken, wie Wut z.B.
Für ein kleines Kind kann es aber zu viel sein, mit heftigen Emotionen alleine zurecht zu kommen, es ist noch nicht fähig sich selber zu beruhigen. Das betrifft auch Situationen, wo Kinder ganz alleine, in fremder Umgebung, Stress ausgesetzt sind, z.B. bei medizinischen Eingriffen oder Krankenhausaufenthalten.
Entwicklungstrauma muss nicht unbedingt dramatische Erlebnisse wie psychische oder körperliche Gewalt einschließen, auch Konflikte zwischen den Eltern, oder deren Gefordert-Sein in Beruf und Beschäftigtsein mit eigenen Problemen kann es befördern.
Entscheidend bei Trauma ist, dass wir uns in belastenden Situationen weder wehren noch weglaufen konnten, uns meist keine Bindungsperson beistand und es dabei zu tiefem Ohnmachtserleben kam.
Die dazu gehörigen Situationen und Gefühle konnten für uns – besonders als Säugling oder kleines Kind – so überwältigend sein, dass sie von unserem Nervensystem nicht mehr verarbeitet werden konnten. Sie wurden stattdessen durch automatische Prozesse im Gehirn abgespalten.
Man kann sich das so vorstellen, wie wenn im Haus die Sicherung herausgesprungen ist, ein Art Schutzmechanismus der Seele vor Überspannung. Diese Abspaltungen waren für uns erstmal eine große Hilfe und Erleichterung, die stressigen Gefühle und Erlebnisse schienen dann wie weg zu sein.
Später kann dies jedoch zu Problemen führen, denn aus der Tiefe beeinflussen uns diese abgespaltenen Erlebnisse und Gefühle weiterhin. Sie wirken unterschwellig auf unser Leben ein als chronische Stressfaktoren, und können langfristig sogar unsere psychische und physische Gesundheit beinträchtigen.
Eine andere Folge kann sein, dass wir den Zugang zu Teilen von uns selbst verloren haben und es manchmal schwierig sein kann, uns selbst zu entschlüsseln und zu spüren, was wir wirklich fühlen oder auch was wir uns wünschen. Wir haben Schwierigkeiten mit Veränderungen umzugehen, das Leben wirkt bisweilen fad und ohne Freude, oder wir betäuben uns mit verschiedenen Ablenkungen.
Entwicklungstrauma hat ganz viel mit dem Thema Bindung zu tun, denn das was uns in den engsten Beziehungen in Familie, Kindergarten und Schule widerfahren ist, bildet später oft eine Art Schablone, nach der sich (unbewusst) unsere engsten Beziehungen in Partnerschaft, Familie, mit Freunden und im Beruf gestalten.
Das Traurige daran ist, dass wir unser Leben nicht so gestalten können, wie es unserem wahren Wesen entspricht und wir in diesen Mustern gefangen bleiben, obschon uns die Welt offen steht und andere Menschen uns heute ganz anders behandeln können.
Viele Psychotherapieschulen sind sich heute einig, wie heilsam es ist, korrigierende gute Bindungserfahrungen zu machen und zugleich die eigenen Gefühle mehr zuzulassen.